Der Brief

Vancouver, den 20. März 1996

Lieber Basil!

Letzte Woche habe ich jemanden am Konservatorium getroffen, der behauptete, Miguel zu kennen. Er schickte mir am nächsten Tag per Kurier Informationen. Ich schicke die Fotos extra, aber hier ­ obwohl ich seine Quellen nicht überprüfen konnte ­ ist der Text, so wie er ihn geschickt hat:


Dokumente, die nach dem Aufheben der Belagerung um Sarjewo herum sichergestellt wurden, enthalten neue Hinweise über die ehemals mysteriösen frühen Jahre von Miguel Siglo. Manuskripte von Klavierkompositionen aus seinen Jugendjahren, Notizbücher, Programme klassischer Musikkonzerte, Konzertkartenabschnitte sind auf dem Dachboden einer der letzten jüdischen Einwohner der fast zerstörten Stadt gefunden worden. Siglo wird schließlich als Mitglied einer sephardischen Familie identifiziert, die seit dem Vertreiben der Juden aus Spanien im Jahre 1492 in der Sarajewo-Gegend wohnt.

Unter den sichergestellten Werken in den persönlichen Habseligkeiten der Siglo-Familie ist eine reich kommentierte Kopie des Monographs ³Chansons Judeo-Espagnols: 1200-1650² von Haim Vidal Sephiha, Siglos viel älterem Halbbruder. Sephihas Buch wurde Anfang der 30er Jahre als Dissertation an der Sorbonne angenommen und war das erste Buch, das die Einflüsse maurischer und arabischer Poesie und Musik auf die jüdische Kultur Mittel-Osteuropas belegte. Der Autor widmet Miguel das kommentierte Buch.

Vormals war von Siglos Kindheit bis zu seiner Anmeldung am Wiener Konservatorium im Jahre 1937 nichts bekannt. Keine Unterlagen existieren von seinen Kriegsjahren; bis 1949, als Siglo als Bandleader und Arrangeur im Tropicana Nachtclub in Havana, Kuba, auftaucht, ist nichts Konkretes bekannt. Gerüchten zufolge soll Siglo mit der berüchtigten ŒGoebbels Gang¹ zu tun gehabt haben, einem Jazzorchester, das sich aus jüdischen, schwarzen und anderen nicht-arischen Musikern zusammensetzte und von dem Nazipropagandaministerium zur Übertragung ³entarteter² Musik an alliierte Truppen angestellt war. Eddie Rickenbacker, Leiter der Goebbels Gang zwischen 1943-44 erinnert sich an einen sensationellen jungen Pianisten, der unter dem Namen Michael Sokolov, bzw. manchmal Socolo, bekannt war. Sokolov war einmal beim Spielen einer ungewöhnlich pikanten Mischung von Jazz mit arabischen und marokkanischen Einflüssen aufgenommen worden, obwohl man die Musik kaum über die Sirenen der Luftangriffe und die Bombenexplosionen hören konnte.²

So, das ist die Geschichte so weit. Wir hätten raten können, daß unser Miguel etwas Besonderes an sich hatte. Wenn ich mehr herausfinde, schreibe ich es Dir. Ich hoffe, die Kunden machen Dich weiterhin glücklich.

Alles Liebe

Jenny